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Elisabeth Freitag

Der Endlichkeit ein Ende

Der Endlichkeit ein Ende

Seelen, die sich lieben, werden durch den Tod nicht getrennt. Einsamkeit herrscht nur in der Welt des Sichtbaren. In uns, dort, wo sich auch die Geister treffen, sind wir niemals allein.

Emma Lillit ist Ärztin und arbeitet als Palliativmedizinerin, ein Beruf, der für sie gleichzeitig Berufung ist. Gemeinsam mit dem zugelaufenen Kater Trüffel führt sie ein in gleichklingender Geborgenheit dahinplätscherndes Leben, bis ihr der Bistro-Besitzer Jacques Jacand über den Weg läuft. Es entwickelt sich eine zarte Beziehung, die die Grenzen zwischen Leben und Sterben verschwimmen lässt …

Seiten: 402

Elisabeth Freitag

  • Spirit Rainbow VerlagSpirit Rainbow Verlag

ISBN:978-3-948108-52-6

Seiten: 402

Normaler Preis €17,00 EUR
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Elisabeth Freitag

Elisabeth Freitag, geboren 1984 in Erfurt, wuchs in der ehemaligen DDR auf. Sie studierte Medizin in Gießen und spezialisierte sich schließlich auf die Bereiche Innere Medizin und Palliativmedizin. Der Roman über das Leben und Werden der Emma Lillit ist ihr schriftstellerisches Debüt.

Leseprobe

Manchmal gab es einfach nichts Schöneres als heimzukommen, dachte Emma Lillit. Obwohl – mindestens genauso oft hatte sie schon der Wunsch überfallen, nicht nur einfach nirgend- wo hinzugehören, sondern weitergehen zu müssen, raus in die Welt, weg vom Gewohnten. Sie stellte sich manchmal vor, wie es wäre, wenn ihr alter brauner Lederkoffer, der für Reisen in diesem Jahrhundert eigentlich nicht mehr vorgesehen und zu klobig war, vor der Tür stünde und der Schlüssel ihrer Wohnungstür nicht mehr passte. Sie hatte keine Ahnung wie oft sie probieren würde, den Schlüssel zum Aufschließen zu überreden und an der Tür zu rütteln, konnte nicht abschätzen, ob sie dabei ruhig oder letztlich doch panisch wäre. Sie fragte sich, wie lang es dauern würde, zu akzeptieren, dass der Schlüssel zwar noch ihr Schlüssel, jedoch das Schloss nicht mehr ihr Schloss wäre, das sie aus ihrem gewohnten Leben aus- und zugleich in ihrem neuen einsperrte. Wie intensiv würde sie die Frage nach dem Warum umtreiben oder wäre sie fähig das Gegebene einfach anzunehmen? Würde sie Verschwörungstheorien anheimfallen und darüber brüten, wer sich ihrer Wohnung habhaft gemacht und sie vor die Tür gesetzt hatte? Wer ihren Koffer gepackt und zuvor womöglich ihren Schrank und ihre Kommode durchwühlt hatte? Oder wäre es ihr sogar wichtig, dass derjenige achtsam vorgegangen war? Welche Auswahl der Kleider, aus welchem Grund getroffen worden war? Kleider, für welchen Ort und für welche Jahreszeit? War es wichtig, welche Gegenstände oder Kleider keine Beachtung gefunden hatten, übersehen oder als verzichtbar befunden wurden? Vielleicht Dinge, die sie unbedingt zum Leben brauchte, wie zum Beispiel – ja, wie was zum Beispiel? Das war der Gedanke, an dem sie jedes Mal hängen blieb. Der Gedanke, der sie mehr irritierte als die Tatsache des ausgewechselten Türschlosses und dem vor die eigene Tür gesetzt sein. »Was wäre im Koffer?«, fragte sie sich dann laut und tat sich schwer eine Antwort zu finden. Es kam ihr dann fast erleichternd vor, dass in ihrer Vorstellung ein Fremder diese schwierige Aufgabe übernommen hatte und nicht sie selbst vor der Aufgabe stand, einen letzten Koffer zu packen, bevor man das alte Leben verlassen müsste.
Doch heute war kein derartiger Koffertag. Heute war es einfach nur gut, nach Hause zu kommen. Schon der Heim- weg war mit diesem schönen Gefühl der Heimkehr behaftet gewesen, auch wenn der Weg eine gefühlte halbe Ewigkeit querstadtein gedauert hatte. Aber das war es ihr wert, denn der Heimweg war ein Ritual und bot genügend Zeit und Möglichkeit, einige Gedanken des zurückliegenden Tages fertig zu denken und dann vielleicht auch hinter sich zu lassen. Es war oft ein Gedankenballast, der – im reinsten Sinn der Worte – auf der Strecke blieb. Blöd war nur, dass sie manchmal noch wusste, an welcher Ecke, welchem Park oder Gebäude, sie welcher Gedanke beschäftigt hatte und so waren manche Orte mit unangenehmen Gedanken oder Erinnerungen an prägende, tagesformende Ereignisse versehen, die ihr dann, zum Beispiel während eines Spazierganges, scheinbar aus dem Nichts wieder in den Sinn kamen. Wenn sie zum Beispiel im Herbst am großen Ahornbaum vorbei- kam, dachte sie zwangsläufig an einen ihrer längst verstorbenen Patienten, der sich, ihn von seinem Bett aus erblickend, nicht daran satt sehen konnte, als die Abendsonne durch das Herbstlaub brach und der dabei sagte: »Ach Frau Lillit! Wer hätte gedacht, dass es in so schweren Zeiten, doch so ungetrübte, wunderbare Augenblicke geben kann!«, so fragte sich Emma, wie losgelassen ein Gedanke wirklich war, wenn er ihr doch immer wieder begegnete. Vielleicht bedeutete Ge- danken loszulassen nicht, sie löschen oder wegschicken zu können, sondern ihnen nur Orte zuzuteilen, wo sie von nun an wohnen würden, damit man sie eben nicht mit sich nach Hause nehmen müsste, wo sie einen ständig umgeben können, ungefragt. Emma fiel auf, dass sie auch wirklich nur dann an diesen einen Patienten dachte, wenn sie die mächtige bunte blättertragende Krone des Ahornbaumes sah und sonst nicht, auch nicht im Winter, wenn die Blätter fehlten.

Ihr heutiger Heimweg war unspektakulär gewesen. Aus der Klinik raus, das obligatorische tiefe Durchatmen in der frischen Luft, die immer anders, aber immer nach lebendiger Welt roch und dann etwa hundert Meter quer über das parkartig angelegte Terrain. Allein auf diesem Weg bis zu der Stelle, wo eine etwa meterhohe dicke Natursteinmauer das Klinikgelände begrenzte und Emma in die noch schnellere Welt der Gesunden entließ, gab es ein ganz eigenes Universum zu entdecken. In den Gerüchen, die sie mit dem ersten Atemholen erhaschen konnte, lag so viel Bemerkenswertes. Je nach Tages- und Jahreszeit war die Luft unterschiedlich voll prallen Lebens. Aus der Klinik zu treten und in der Abendluft des Frühlings das ungeduldige Entfalten und Werden zu riechen, das den Aufbruch in sich trug, erfüllt von dem Geruch der ersten Blüten und lebendig werdenden Erde, weckte jedes Mal Emmas Lebensgeister nach einem langen Arbeitstag. Im Sommer, wenn die Luft federleicht nicht nur in die Nase schlüpfte, sondern beim Atmen durch jede Pore zu dringen schien, war es der Geruch der von Sonne verwöhnten Welt, einer regenbelohnten durstigen Erde oder eines frisch gemähten Rasens, der das Leben beschrieb. Im Herbst, nebelschwer und regendicht, sodass es sich fast anfühlte, als wäre die Luft zu dick, um sie einzuatmen, mit einem Hauch des Moders bereits vergehen- der Blätter, der schon vermuten ließ, wie der Abschied riechen würde und dann, ein paar Wochen später, der stählerne Geruch schneematschiger Straßen, die Luft an klaren Tagen eisig dünn mit beim Atmen schmerzend schneidender Klinge.