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Bernd Müllender

Die Zahl 38.185

Die Zahl 38.185

Aachen in den frühen 2020er Jahren: Der leidenschaftliche Biker Damian und die Sportwagenfahrerin Ariane lernen sich auf merkwürdige Weise kennen. Zeit gleich nehmen die Auseinandersetzungen um den Radentscheid vehement an Schärfe zu: Mehr Radwege, die sichere Umverteilung der Verkehrsräume, eine lebenswertere Stadt? Politisch ist das verbindlich beschlossen, aber es hakt überall, die Umsetzung stockt, der Widerstand wächst. Wie soll Aachen das schaffen?

Autofahrer treffen sich heimlich, sorgen sich um Parkplätze, sehen ihr Blech als Schutz vor Blech, nehmen Bäume als Geiseln und starten die erste Critical Mass für Vierräder. Die Radler kämpfen verbissen um jeden Meter Bike Lane und die Verkehrswende, manche geraten dabei als Wege-Blockwarte in Verfolgungswahn. Und emsige Stadtplanerinnen setzen ausgebufft auf den ersten Bürgerdialog ohne Bürger. Eine Stadt ist in Aufruhr!

Seiten: 336

Bernd Müllender

ISBN:978-3-96123-018-1

Seiten: 336

Normaler Preis €15,00 EUR
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Bernd Müllender

Bernd Müllender, geboren 1956, lebt in Aachen und war viele Jahre als freier Journalist tätig, unter anderem für die taz, den Tagesspiegel, das GrenzEcho und die Aachener Nachrichten. Müllender ist passionierter Fahrradfahrer und sorgte für Schlagzeilen, nachdem er im September 2019 eine Haltelinie an einer roten Ampel am Adalbertsteinweg überfahren hatte, damit die ebenfalls an der Ampel wartenden Autofahrer ihn sehen konnten. Gegen das verhängte Bußgeld von sechzig Euro zog er vor das Amtsgericht Aachen und verlor – Die Revision in der nächsthöheren Instanz läuft …

Leseprobe

»Radautobahnen« – dieser wunderbar absurde Begriff war den Unterschriften-Sammlern am Tivoli, damals im Herbst 2019, noch unbekannt. Mit großem Eifer waren sie bei der Sache. Vor allem die resolute Franziska Vallet-Byaruhanga, Krankenpflegerin von Beruf, schien geradezu gierig, mit al­len Mitmenschen ins Gespräch zu kommen. »Wir wollen si­chere Radwege und Kreuzungen … umbauen, ausbauen … getrennte Busspuren, abgetrennte Radwege. Keine schmalen Streifen zwischen parkenden Autos rechts, eng vorbeirasen­den Autos links und davor manchmal noch Karossen, die mal eben abgestellt worden sind …« Schließlich das Joker-Argu­ment: »Würden Sie Ihr Kind auf die jetzigen Pisten des Grau­ens lassen?«
»Naja, nein«, hörte sie dann meist, und es gab die nächs­te Unterschrift.
Häufig hörte sie jedoch Sätze wie: »… aber die Radfah­rer müssen sich auch mal an die Verkehrsregeln halten.« Franziska kannte das: Schnell das Thema umdeuten. So machten es viele, immer wieder. Dann musste man immer eine Tirade von schrecklichen Erlebnissen über sich erge­hen lassen, mal von sogenannten Radrüpeln ohne Licht, mal von angeblich unverschämten Manövern auf Fußwe­gen, von Rotlichtabbiegern, von Radfahrern, die überhaupt immer und überall machten, was sie wollen, die nicht klin­gelten und man sich dann so erschreckte, wenn sie plötzlich ganz eng neben einem auftauchten …
Klar, das gab es. Die einen sagten: vereinzelt, die anderen sagten: dauernd. Solches Rüpeltum war auch nicht weiter zu verteidigen. Aber machte es Sinn, das aufzurechnen? Natürlich nicht.
Franziska war sich zudem sicher, dass insbesondere der Anklagepunkt mit dem Nichtklingeln andere Gründe ha­ben konnte: Der Überholte, gern im Rentneralter, hatte halt vergessen, sein Hörgerät einzuschalten. Sie selbst, die jeden Tag mit dem Pedelec nach Stolberg zur Arbeit fuhr, hatte sich schon mehrfach die Finger wund gebimmelt und vor ihr: Keine Reaktion.
Aber das sagte sie jetzt natürlich nicht. Ihr Langmut hatte Franziska während solcher Empörungsmonologe je­des Mal über alle Hürden hinweggeholfen. Immer hatte sie einfach freundlich gelächelt: »Einverstanden, nicht jeder Radfahrer hält sich immer eisern an alle Regeln. Das fin­det niemand gut, das kann nerven. Aber sagen Sie das auch mal den beiden Radfahrerinnen, die dieses Jahr in Aachen getötet wurden. Die würden ihre Wünsche sicher liebend gern befolgen.«
Das saß immer.
Gerade hatte sie wieder jemanden ins Gespräch verwickelt. Und das hieß, er oder sie würde nicht entkommen, nicht bei Franziska, ohne den Stift zu zücken, selbst wenn es sich um einen SUV-Fahrer mit bescheidenem Hirnhinter­grund handelte. Hier am Stadion aber stieß selbst Franziska manchmal an ihre Grenzen: »Ich hatte auch schon einige, wie soll ich sagen, interessante Begegnungen«, erzählte sie in einer kleinen Pause, »einer hat gesagt ›Ich bin kein Fahr­radfahrer, ich bin Alkoholiker.‹«
»Hmmm«, sagte Filip, der vierte im Bunde, und bemühte sich ernst zu bleiben.
»Eine andere Frau hat mich auch ganz geschickt abge­wimmelt.« Franziska machte eine Kunstpause, bis Esther endlich fragte: »Wie denn?«
»Die sagte ›Geht nicht, Kind. Ich kann nicht schreiben.‹ Und ich muss ehrlich sagen, ich hab es ihr geglaubt.«
Die Menschen strömten derweil weiter in den Tivoli, eini­ge tausend, so wie sie es immer tun, alle vierzehn Tage. Es war ja auch sehr wichtig, ob es dem einstmals dreifachen FC-Bayern-Serienbezwinger (2004, 2006, 2007), der damit zum Rekordpokalsiegerrekordrauswerfer geworden war, gelingen würde, auch den heutigen Gegner SV Rödinghau­sen zu schlagen? Zuletzt war das gegen andere Liga-Gigan­ten wie Bergisch Gladbach 09 oder den SC Wiedenbrück fast gelungen.
»Kein leichter Termin hier«, sagte Damian nach einer guten halben Stunde. Kaum zwei Dutzend Unterschriften waren es bislang bei allen vier zusammen. Bei vergleichba­rem Andrang kam man woanders, bei Konzerten oder Bür­gerfesten, zu zweit locker auf die doppelte oder dreifache Zahl. Vielleicht weil beim Fußball nicht so viel radaffines Publikum auftaucht?
Mit dem Rad fahren ohnehin nur wenige zu einem Fuß­ballstadion. Das hat mehrere Gründe. Da ist zunächst das rituelle Vorglühen. Das findet seit Erfindung von Verbren­nungsmotor und Ball auf der Fahrt zum Stadion im Auto­mobil oder im Bus statt. Das Leeren erster Bierportionen funktioniert auf dem Rad deutlich schlechter. Von solchen Vorbedingungen wussten auch die Radenthusiasten. Und sie sahen sich am Stadion um. Hier vorne an der Krefel­der Straße gab es ganze sechs Radbügel. Sechs – bei einem Stadion für fast 33.000 Menschen. »Ist das nicht herrlich lächerlich?«, sagte der Mathematik-Lehrer Filip Heinen. Außerdem, meinte er, wenn man ein solches Monsterpark­haus in die Wiesen setze wie hier, das über 300 Tage im Jahr fast ungenutzt herumsteht, »fahren viele sicher auch aus Mitleid mit dem Auto«.
Tatsächlich gab es hinten am Parkhaus auch noch eine Menge Abstellplätze für Räder, wenn auch eher von der Sorte Speichenbrecher. Die sind halt billiger, und Sparen muss man einem klammen Club wie der Alemannia nach zwei Insolvenzen zugestehen, entschuldigte Damian sei­nen Herzensverein. Kurz vor 14 Uhr, also fast zur Anstoß­zeit, kam Franziska schließlich von dort zurück.