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Helmut Erwert

Elli oder Die versprengte Zeit

Elli oder Die versprengte Zeit

Den Haag: Der Internationale Strafgerichtshof verfolgt mutmaßliche Kriegsverbrecher aus dem ehemaligen Jugoslawien. Unter Verdacht steht auch Tihomir Zivkovic, in dessen Besitz sich mehrere Briefe einer gewissen Elli befinden. Wer aber ist diese Frau, deren Geschichte ein pensionierter Brüsseler Diplomat im Auftrag des Gerichtshofs klären soll?

Zu landespatriotisch-jugoslawischer Gesinnung erzogen, wächst die junge Elli Gabor in den 1920er Jahren in der vorindustriellen, multikulturell geprägten Kleinstadt Bela Crkva auf. Ihre humane Offenheit wird überlagert von nationalistischer Engstirnigkeit und vom Krieg diktierter Monotonie. Ausgeliefert an ein höheres Geschick, sieht sie sich mit existentiellen Lebensfragen der Identität und der Selbstbehauptung konfrontiert.

Seiten: 326

Helmut Erwert

ISBN:978-3-86417-100-0

Seiten: 326

Normaler Preis €14,80 EUR
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Helmut Erwert

Helmut Erwert, geboren in Weißkirchen/Bela Crkva, studierte Geschichte, Germanistik und Anglistik an er Maximilians-Universität München. Er unterrichtete an bayrischen Gymnasien, in den USA und in Spanien. Zu seinen Publikationen zählen Lehrbücher, Beiträge zur südostdeutschen Literaturgeschichte und zur Regionalgeschichte seiner neuen Heimat Straubing-Bogen.

Leseprobe

Tags zuvor hatte Jérôme am Telefon gefragt, ob ich jemals einer Elli begegnet sei. »Ja, ja. Meine Cousine haben wir so gerufen, ob- wohl sie Gabriela hieß«, sagte ich meinem Brüsseler Freund und Kollegen. »Wie gut kanntest du sie?« – »Ich habe meine Kindheit und Jugend in ihrer Nähe verbracht. Später standen wir in engem Kontakt, wiewohl sie um einiges älter war.« – »Feri, du musst uns helfen. Hatte sie einen Freund namens Tiho oder Tihomir?«, fragte er mich. »Ja, hatte sie.«
Ich erzählte vom Sommer, als Elli dem Piloten begegnete, in dem Jahr, als Ivan Pernar, Ðjuro Basarićek und Stjepan Radić im Belgrader Parlament aus tödlichen Wunden bluteten. (Die Kugeln eines Montenegriners hatten sie niedergestreckt.) – »Aha, da haben wir’s! Hass, Umsturz, Bürgerkrieg!«, rief Jérôme, »darüber müssen wir reden!« – »Nein, das war kein Bürgerkrieg!« – »Und die blutigen Szenen in der skupština?«
Nein, der Knall der Schüsse war nicht in unsere Blumenstadt gedrungen. Hier schimmerte kein Blut am Boden, hier blitzten weiße Uniformen der königlich-jugoslawischen Luftwaffe auf dem breiten, sonnenbeschienenen Gehsteig des Korso. Von hier verirrten sich zwei junge Fliegeroffiziere ins Café ›Stadt Wien‹, wo gerade ein Abschlussball eines Tanzkurses stattfand. Der eine, mittelgroß, strebte zu einem abseitsstehenden Tisch, sein großer, hagerer Freund folgte ihm.
Die Männer beobachteten die Aufstellung der Tanzkreise: die Mädchen in hellen, spitzenbesetzten Kleidern, die Burschen in dunklen Anzügen warteten auf den Einsatz der Musikkapelle. Der mittelgroße Uniformierte schielte andauernd zu einer zierlichen Person in einem der Reigen, flüsterte seinem Kollegen zu: »Die süße Kleine dort drüben, die gefällt mir!«
Die ersten Töne erklangen; die Tanzschüler schritten artig zur einen, zur anderen Seite, wie es der pflichtmäßige kraljevo kolo zu Beginn einer Tanzveranstaltung vorschrieb; die Offiziere schleus- ten sich in einen Kreis ein, beschleunigten das Tempo der Schritte und begannen, das Parkett mit ihren Stiefeln zu traktieren; die Tanzreihen gerieten in ungestüme Bewegung, das heiße Temperament der Offiziere durchbrach die bürgerliche Ordentlichkeit, denn kein Tanzlehrer klopfte mit dem Stock den gemessenen Takt des »Königsreigens« aufs Parkett, wie in den Proben vorher.
»Der Kudek war gar nicht anwesend«, kommentierte meine Schwester, die mir seit dem Tod meiner Frau den Haushalt führt und allzu gern meinen Behauptungen widerspricht, »er hatte sich das Bein gebrochen.« – »Ja, ja, darauf kommt’s doch nicht an«, knurrte ich missmutig, »ich wollte nur deutlich machen, dass die Piloten ihre wilde Verfolgungsjagd in hohen Lüften jetzt auf dem Tanzparkett fortsetzten.« Nach dem Kolo trat der eine Pilot vor Ellis und Hildes Tisch, stellte sich vor – »Aleksandar Savić«, – machte vor Hildes Mutter eine Verbeugung und bat ihre Tochter zum Tanz.
Hilfesuchend schaute das Püppchen Hilde um sich, doch da war niemand, der ihr raten mochte, und sie folgte dem Kavalier. Der drückte sie beim Walzer eng an seine Uniform; ihre Augen blickten auf seine Fliegerabzeichen an der Brusttasche, auf den Doppeldecker, den schwirrenden Propeller, – der versetzte das Mädchen in einen Taumel, den sie sich nicht einzugestehen wagte; sie wurde rot im Gesicht, schwitzte an den Handflächen.

Elli hatte auf Hildes Drängen an der Veranstaltung teilgenommen; für die Zeit des Abends versuchte sie, ihre Traurigkeit zu überspielen, hatte reichlich Vorbestellungen für die nächsten Tänze. Ihr Bubikopf schwebte in der wogenden Schar der Paare, ihr waden- langes, tailliertes Kleid mit den gestickten Rosen, die sich aus einem Füllhorn ergossen, ließ sie größer erscheinen, obwohl sie Hilde um kaum eine Spanne überragte.
Der andere hereingeschneite Pilot hatte sich mit »Tihomir Živković« vorgestellt, war ebenso temperamentvoll ins Tanzvergnügen eingestiegen, hatte seine Tischnachbarin Elli aber kein einziges Mal zur Tanzfläche geführt. Man fragte sich, warum de Offizier keine einzige Runde mit seiner Tischgenossin drehte. Das alles erzählte ich Jérôme am Telefon, – verschwieg nicht, dass Tihomir und meine Cousine später Freunde wurden, sich trennten, doch irgendwie zusammenhielten, – dann traf die E-Mail ein, die mich aus der Fassung brachte. Die Anfrage stehe im Zusammenhang mit dem Tribunal in Den Haag; ein befreundeter Research Officer sei mit Ermittlungen beauftragt, bei denen man einem Verdächtigen namens Tihomir Živković auf der Spur sei, erklärte Jérôme. Er wolle dem Ermittler zur Hand gehen; die Bitte an mich um Information sei also kein »originärer Auskunftserheisch«, sondern »eine umgeleitete Neugier«.
»Aha! Eine Neugier!«, antwortete ich etwas verärgert. »Ferdinand, ich konnte nicht anders! Es liegen Briefe vor, in kyrilli- scher Schrift, die bei der Verhaftung eines vermeintlichen Kriegsverbrechers sichergestellt worden sind.« Klare Indizien seien die Unterschrift der Absenderin »Elli«, die angesprochene Person »Tihomir«, sowie die Ortsbezeichnung »Weißkirchen – Bela Crkva«. Die Spürhunde vom Tribunal suchten nähere Auskünfte zu die- sen Personen. Jérôme war herausgeplatzt: »Da kann euch gehol- fen werden. Ich kenne jemanden, der in Weißkirchen – Bela Crkva geboren ist!«
»Bela Crkva – Weißkirchen«! In der Glockenstube der weißen Kirche zogen wir Ministranten übermütig an den dicken Stricken, ließen sie in den Deckenlöchern oben scheuern, und das Gebälk im Turme begann zu ächzen, ein Ton sprang ins Leben, fragte nach dem Zwilling – bamm? –, gleich kam die Antwort, und es ging – bamm bomm, bamm-bomm; weitere Glocken mischten sich dazu, ein Geläut blühte auf, der Holzboden zitterte, die Stube, die Kirche, die Welt strömten über von Glockentönen. Dann hängten wir uns an die Seile, fuhren hoch zur Decke, sausten nieder mit aufgeblähten Kitteln – Himmelfahrt und Höllensturz.
Von dieser Stadt, von ihrer weißen Kirche hätte ich gerne er- zählt, aber Elli und Tihomir in Zusammenhang mit Kriegsverbrechen zu sehen? »Gut. Deine Elli hat nichts mit den Bürgerkriegen zu tun, sagst du, dann kannst du doch loslegen!«, versuchte Jérôme meine Einwände zu überspielen. »Was ich weiß, sind persönliche Erinnerungen. Die haben nichts mit Politik zu tun!« – »Alles hat mit Politik zu tun, mit großer, mit kleiner. Alles Geschehen ist ein Zeitstrom, eine immerwährende, zusammenhängende Gegen- wart. Söhne, Töchter, Nichten und Neffen stehen in einer Ereignislinie mit ihren Eltern, ihren Onkeln und Tanten. Bei euch da unten hat’s doch immer schon Aufstände und Kriege gegeben«, schnarrte er abfällig in den Hörer, »und jede Menge Umstürze!«
Umstürze? Ja, doch. Elli war als Kind Zeugin einer aufregenden Szene gewesen, als am Ende des »Großen Krieges« die Fratschlerinnen am Gemüsemarkt verkündeten, »neue Truppen« seien einmarschiert. Welche Truppen? Deutsche, österreichische, ungarische? Von weitem sah man dunkle Gestalten in abgerissener Kleidung jubelnd die Nera-Allee heraufkommen; sie stießen mit den Gewehren in die Luft, schrien: »Više je dinar nego švabska kruna!« (Der Dinar ist mehr wert als die schwäbische Krone!)
Die bartstoppeligen Männer, eingerollte Decken über der Schulter, einen Dolch im Hosengurt, zogen an Elli vorbei – welch seltsamer Kontrast zu dem Mädchen im weißen Kinderkleidchen mit Schleifen im Blondhaar.
Menschen liefen zusammen; der Rechtsanwalt Dragutin Ðorđević rollte ein rot-blau-weißes Fahnentuch aus, heftete es an eine Stange, rief zaghaft »živeo, živeo«. Dem Trupp folgte ein Zug dunkelhäutiger Fußsoldaten mit einem poručnik zu Pferde. Der ließ seinen Haufen vor einem langbärtigen Popen anhalten, nahm einen mit Salz bestreuten Kanten Brot in Empfang, sprach Worte wie »oslobođenje« – »Befreiung«. An der Gassenecke verlas ein Gendarm die Nachricht: »Der Kaiser in Wien ist abgesetzt, in Budapescht ist eine Revolution ausgebrochen! Das Banat wird dem Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen einverleibt!«