So also fing alles an. Und mit diesem vagen Auftrag in der Tasche machte ich mich mit meinem Hugo am 23. Mai 2015 auf den Weg in dieses Westerwalddorf, von dem ich noch nie etwas gehört hatte. Da ich hauptsächlich Autobahn fahren konnte, hielten sich die Strapazen der Fahrt in Grenzen. Trotzdem war ich glücklich, als ich das Dernbacher Dreieck erreichte. Ich muss zugeben, dass mich doch eine gewisse Aufregung packte. Ein Kloster als Ort von Recherchen gab es sicher auch nicht alle Tage.
Dernbach war sogar eine Stadt. Ich fuhr die Hauptstraße hoch und runter und hielt vergeblich Ausschau nach einem Hinweisschild. Ein Kloster ist ja schließlich etwas Besonderes in einem Ort. Ich fuhr fast alle Nebenstraßen ab. Von Kloster keine Spur. Schließlich parkte ich meinen Hugo vor der Bäckerei und stieg aus. Da kam auch schon eine ältere Frau die Straße herauf. Die konnte mir sicher weiterhelfen.
»Entschuldigen Sie bitte«, sprach ich sie an. »Ich suche das Kloster Maria Hilf.«
»Haben wir hier nicht«, sagte sie kurz und ließ mich stehen.
Das gibt‘s doch nicht, fuhr es mir durch den Kopf. Welches Alter sollte ich denn dann ansprechen? Ich ging die Straße ein wenig weiter, bis ich auf einen alten Mann traf.
»Entschuldigen Sie bitte«, versuchte ich wieder mein
Glück. »Ich suche das Kloster Maria Hilf.«
»Haben wir hier nicht«, sagte er kurz. Er aber ergänzte:
»Da müssen Sie woanders hin.«
Ich spürte, wie ich ärgerlich wurde. So klein war ein Kloster ja nun auch nicht, dass man nicht wissen konnte, wo sich dieses Gebäude befand. Ich ging zurück zu meinem Auto und ging kurzerhand in die Bäckerei.
»Entschuldigen Sie bitte«, sagte ich sofort. »Ich suche das Kloster Maria Hilf.« »Dann suchen Sie am falschen Ort«, lächelte die Verkäuferin.
»Aber ich bin doch in Dernbach«, entgegnete ich gereizt.
»Aber im falschen«, grinste sie. »Das Kloster, das Sie suchen, befindet sich im Dernbach bei Montabaur. Am besten fahren Sie zurück zur Autobahn und nehmen dann die Auto- bahnabfahrt Montabaur. Sie halten sich Richtung Wirges, und irgendwann kommt dann auch ein Schild Dernbach.«
Das ganze fing ja gut an. Mehr aus Ärger und Frust kaufte ich mir ein Rosinenbrötchen und mümmelte das hinter meinem Steuer, bevor ich mich wieder auf den Weg machte.
Meine Befürchtungen trafen nicht ein. Dieses Dernbach bei Montabaur war gar nicht so schwierig zu finden. Diesmal handelte es sich wirklich um ein Dorf. Und ich fand auch sofort mein Hinweisschild »Kloster Maria Hilf«.
Vor dem Gebäude, das das Kloster sein musste, parkte ich meinen Hugo. Ich muss mich schon so vorsichtig ausdrücken; denn außer dass ich eine Kirche sah, erinnerte mich nichts an ein Kloster. Ich sah keine dicken Gemäuer, keine hohen Mauern, kein großes Tor. Ein Flügel der Holztür zum Eingang stand einladend offen. Als ich die wenigen Stufen hinaufging, sah ich links einen Schriftzug »Mutterhaus der Armen Dienstmägde Jesu Christi«. War ich wirklich richtig hier? Ich ging durch die Tür. Im Windfang gab es noch einmal zwei Stufen. Die große Glastür öffnete sich automatisch, als ich näherkam. Neugierig ging ich weiter und betrat einen großen, hellen, freundlichen Empfangsraum. Hinter dem Empfangstresen stand eine Nonne, die mir mit einem offenen Lächeln entgegensah.
»Guten Tag«, sagte ich. »Bin ich hier richtig? Ich wollte in das Kloster Maria Hilf …«
»O ja, Sie sind richtig«, lächelte sie freundlich. »Sie sind sicher Frau Fuchs, nicht wahr? Wir haben Sie schon früher er- wartet.«
Ich nahm die Hand, die sie mir zur Begrüßung reichte.
»Ich war erst in einem falschen Dernbach …«
Sie lachte leise. »Das passiert vielen, die das erste Mal zu uns kommen. Ich bin Schwester Klara. Herzlich willkommen. Haben Sie kein Gepäck dabei?«
»Das habe ich im Auto gelassen. Ich wusste nicht, ob ich richtig bin …« »Dann holen Sie es sich mal herein, und dann zeige ich Ihnen Ihr Zimmer.«
Ich kam ihrer Aufforderung nach. Als ich zurückkam, ging sie mit mir am Empfang vorbei durch eine Tür, die ebenfalls offenstand.
»Wir haben hier drei Referentenzimmer«, erklärte Schwester Klara. »Zurzeit sind Sie alleine hier. Das erste ist Ihr Zimmer.«
Sie öffnete die Tür – »St. Andreas«, stand darauf – und ließ mich eintreten.
»Machen Sie es sich schon mal bequem. In etwa zwanzig Minuten ist die Vesper zu Ende. Dann benachrichtige ich Schwester Oberin, dass Sie hier sind. Bis dahin!«
Ich nickte, auch wenn ich keine Ahnung hatte, was sie mit Vesper meinte. Schwester Klara lächelte und ging zu- rück zum Empfang.
Ich sah mich um. Der Raum war relativ groß und sehr hell. Die Wand, auf die ich beim Eintritt in das Zimmer blickte, bestand fast nur aus Fenster. Auf der rechten Seite, direkt am Fenster, stand ein Schreibtisch mit Telefon. Da- neben befand sich eine große Stehlampe und ein gemütlicher Sessel. An der Wand rechts von der Eingangstür stand das Bett und der Nachttisch. Die linke Wand war mit dem großen Schrank zugestellt. Im Anschluss daran befand sich eine Tür und in der folgenden Ecke ein Fernseher, daneben ein kleines Tischchen, auf dem eine Schale mit Obst und eine Flasche Wasser standen. Neugierig öffnete ich die Tür. Dahinter befand sich eine Nasszelle mit Toilette. Der Raum mitten im Zimmer wurde eingenommen von einem Tisch mit zwei Stühlen.
Noch war ich aus dem Staunen nicht herausgekommen. Ich war wirklich in einem Kloster. Und dieses Kloster entsprach so gar nicht meinen Vorstellungen von einem Kloster. Alles wirkte so einladend, so freundlich, so offen, selbst die Nonne am Eingang.
Ich packte meinen Koffer aus. Mein Aufenthalt war auf eine Woche angelegt, obwohl mir mein Chef durch Andeutungen prophezeit hatte, dass mir diese Zeit nicht reichen würde. Nun, ich nahm mir vor, zügig zu arbeiten.
Schwester Klara hatte von zwanzig Minuten gesprochen, fünfundzwanzig Minuten später klopfte es an meiner Tür. Ich öffnete.
»Herzlich willkommen im Mutterhaus, Frau Fuchs.« Die Nonne streckte mir lächelnd die Hand entgegen. »Ich bin Schwester Cäcilia. Ich würde Sie gerne mit zur Cafeteria nehmen. Sie haben doch sicher Hunger nach der langen Zeit.«
»Sind Sie die Schwester Oberin?«, fragte ich, als ich ihr folgte.
»Das ist meine Aufgabe hier, ja. Das Mädchen für alles.« Wir gingen am Empfang vorbei. Schwester Klara hob lächelnd die Hand. Bevor wir in den Gang einbogen, der dem Haupteingang gegenüberlag, nahm ich jetzt das große Bild wahr, das an der dunklen Wand hing. Unwillkürlich blieb ich stehen.
»Das ist unsere Gründerin – Maria Katharina Kasper. We- gen der sind Sie ja gekommen, nicht wahr?« Schwester Cäcilia schmunzelte. »Das Bild gefällt Ihnen nicht«, stellte sie fest.
Die Frau auf dem Bild wirkte streng, abweisend. Unter- strichen wurde der Eindruck noch dadurch, dass sie von dem Betrachter wegsah. Das ganze Bild war dunkel, düster. Das lag an dem schwarzen Schleier und Kleid ebenso wie an dem schwarzen Hintergrund des Bildes. Der herbe Gesamteindruck wurde noch unterstrichen von der massiven Einfassung des Bildes.
»Es spricht mich wirklich nicht an«, gab ich zu.
»Es ist ein Gemälde aus dem Beginn des 20. Jahrhunderts«, erklärte Schwester Cäcilia. »Es entspricht dem da- maligen Stil. Es gibt schönere Bilder von ihr.«
Wir gingen einen langen Flur entlang. Hier brannte Licht, und die Türen zu den angrenzenden Räumen – Sprechzimmer, erklärte mir die Oberin – standen alle offen, damit er nicht zu dunkel war. Wir kamen in ein großes Foyer, das beherrscht wurde durch eine personengroße Darstellung der Gründerin. Der kindlich-naive Stil dieser Darstellung irritierte mich. Irgendwie erinnerte sie mich an ein Kommunionbild aus den 50er Jahren. Schwester Cäcilia öffnete eine Tür, die
– wie das Hinweisschild deutlich machte – den Flur freigab, der zur Cafeteria führte. Und wieder staunte ich: eine modern eingerichtete Cafeteria in einem Kloster. Der erste Tisch, an den mich die Oberin führte, war für eine Person gedeckt.